Ganz herzlichen Dank für Eure lieben und aufbauenden Worte. Ich wünsche meinem Mann auch, dass er erlöst wird und die Leidenszeit für ihn wie für uns ein Ende nimmt. Für seine Kinder ist er auch nicht einfach, aber sie sind sehr tapfer.
Leider gibt es nichts, womit man ihm eine Freude machen könnte. Er reagiert auf gar nichts mehr, er schaut nicht hin, er hängt in seinem Liegestuhl oder sie lassen ihn jetzt auch im Bett, weil er fast nur noch schläft. Deshalb ist es für mich wichtig, ihn besuchen zu können, weil ich ihm dann die Hand halten und mit ihm reden kann. Das spürt er, wenn er auch nichts erwidert und zeigt. Das Einzige, was man ihm noch mitgeben kann, sind Berührungen und Worte.
Ihr habt ja in den letzten Jahren auch alle liebe Menschen verloren und musstet den Verlust verarbeiten. Das ist der Lebenslauf und es trifft alle. Und dass man eines Tages die Trauer überwindet, gehört ebenfalls dazu.
Ich habe ja schon einen grossen Teil der Trauerarbeit hinter mir, ich bin seit drei Jahren allein und habe mich daran gewöhnt, alleine zu sein. Ich bin es auch nicht ungern. Ich bin nun 52 Jahre verheiratet, das sind gut zwei Drittel meines Lebens. Das ist halt schon eine lange Zeit, die ich mit ein und demselben Menschen verbracht habe. Da bleiben viele Erinnerungen mit denen man leben kann. Und ich ertappe mich oft dabei, wie mir seine Sprüche in den Sinn kommen und ich sie dann verwende. Oder lustige Ausdrücke, die niemand mehr gebraucht, fallen mir wieder ein und ich habe mir dann zur Gewohnheit gemacht, diese zu verwenden, damit sie nicht verloren gehen.
Ein kleines Update. Die Zeit rast so dahin, dass mir manchmal angst und bange wird, ich flieg aus der Kurve.
Die Corona-Zeit ist auf dem Lande ja nicht so schlimm zu ertragen, wie das für Leute in den Städten sein muss, und im eigenen Haus mit Garten schon gar nicht. Spaziergänge in der Umgebung sind kein Problem, selten ist jemand anzutreffen. Das Einkaufen im Dorfladen ist stresslos und auch im nächsten grösseren Supermarkt hat es verhältnismässig wenig Leute, ich gehe ja auch nicht, wenn alle andere einkaufen. Um dem Stress an der Kasse zu entgehen, habe ich mich überwunden und scanne meine Einkäufe selber ein. Bin überrascht wie einfach das ist, wenn man mal den ersten Schritt gewagt hat.
Aber darum schreibe ich Euch ja nicht. Ich wollte einfach melden, dass es mir soweit gut geht. Was ich leider von meinem Mann nicht schreiben kann. Am 14. Dezember ist er drei Jahre im Heim, sein Zustand ist mehr als traurig, zu 100% pflegebedürftig, lebt er in einer eigenen Welt, kann nichts machen, nichts erzählen – vergleichbar mit einem kleinen Vögelchen, welches den Schnabel aufsperrt, wenn Futter kommt. Da sein Kopf nach vorne hängt, sieht er nur den Boden und man kann sich nicht direkt ansehen. Es ist so traurig zusehen zu müssen, wie ein Mensch entschwindet und nur noch eine Hülle und ein Schatten übrig bleiben. Die Corona-Zeit macht alles nur noch schlimmer. Im Frühjahr konnte ich ihn fast drei Monate überhaupt nicht besuchen und dann nur nur auf Anmeldung im Aussenbereich, mit Mundschutz aber immerhin doch auf Tuchfühlung! Dann kam Corona ins Heim und da war wieder totales Besuchsverbot. Da ich nie mehr auf der Station war, verliere ich den Bezug zu seinem Umfeld und vor allem zu ihm total. Ich weiss überhaupt nichts mehr, man sagte mir, er könne nicht mehr selber stehen und sein Fingerfood nicht mehr selber essen. Heute kam ein Anruf, es gehe ihm nun ganz schlecht… Ich muss jetzt ernsthaft mit dem Ende rechnen, es läuft mir kalt den Rücken hinunter.
Ich bin in einem totalen Dilemma. Einerseits möchte ich, dass es endlich ein Ende nimmt und anderseits fürchte ich mich schrecklich davor. Wenn das Heim anruft, dann klopft mein Herz bis zum Hals und ich zittere von Kopf bis Fuss, und getraue mich nicht den Anruf anzunehmen. Dann stellt sich heraus, dass es sich um etwas Harmloses handelt, aber ich kann kaum antworten, weil ich mich nicht sofort wieder beruhigen kann. Das macht mir Angst und die Corona-Situation verschlimmert alles nur noch mehr. So bin ich mal Himmelhochjauchzend, dann wieder traurig und wegen einer Kleinigkeit zu Tränen gerührt.
Aber wie gesagt, eigentlich geht es mir ja gut. Ich habe zum Glück meinen Humor nicht verloren und kann mich über viele kleine Dinge freuen oder habe es auch oft sehr lustig nur mit mir! Naja, wenn man so viel allein ist, muss man sehen, dass man nicht untergeht. Ich pflege viele Hobbys, bei denen ich die Zeit vergesse und die Tage rasen dahin, trotz Corona und Kontakt-Beschränkungen.
Ich konnte auch einiges verwirklichen: Ich war im Sommer eine Woche mit meiner Tochter auf der Seine und – was ja glücklicherweise noch geklappt hat – die Schifffahrt auf Deutschlands Wasserstrassen. Nur leider war ich dieses Jahr nie am Meer und das fehlt mir eindeutig. Die Flussfahrten sind zwar schön, aber sie ersetzten keine Reise auf dem Meer…
Ich treffe mich öfters mit meiner Tochter, wir haben ein ganz tolles Verhältnis und sie macht es super in Bezug auf ihren Papi.
Im August – in einer Corona-Pause sozusagen – konnte ich für vier Tage nach Hamburg fahren. Meine Prinzessinnen hatte ich im November 2019 das letzte Mal gesehen. Mein Sohn konnte nicht mehr in die Schweiz kommen. Sein Besuch war für Ende März vorgesehen, was ja dann gecancelt wurde. Im Sommer war es nicht möglich – Ferien und sonstige Termine – und jetzt wieder die neuen Beschränkungen. Zum Glück gibt es WhatsApp, so kann ich wenigstens mit der Familie sichtbar kommunizieren. Die Jüngste wurde im August auch schon eingeschult und die Älteste ist bereits im zweiten Gymnasium-Jahr. Ich schicke Euch über WhatsApp mal ein Foto.
Dann haben mein Bruder und ich das Elternhaus räumen müssen, was ein ganzes Jahr gedauert hat. Wir hatten jeweils eine einstündige Anfahrt, sodass wir nicht einfach schnell mal hingehen konnten. Unser Stiefvater hinterliess uns etwas Ähnliches wie ein Messie-Haushalt. Es war ein hartes Stück Arbeit, alles zu sichten und eine Triage zu treffen. Einiges stapelt sich jetzt bei meinem Bruder und mir und muss noch sortiert werden. Ein paar schöne Sachen, Lampen, ein Schrank habe ich aufgestellt, sodass sich in meinem Haus auch einiges geändert hat, weil ich ja jetzt alleine entscheiden kann, wie es aussehen soll. Jede Medaille hat zwei Seiten… Aber das Räumen war nur ein Teil der Arbeit, der andere betraf unser Leben. Es war eine emotionale Achterbahnfahrt. Da unsere Familienverhältnisse sehr kompliziert waren und wir vieles von unserer Mutter nicht erfahren haben, war das eine Reise in die Vergangenheit unserer Vorfahren plus Verarbeitung unserer eigenen Geschichte. Mein Bruder ist 17 Jahre jünger und hat unsere Mutter und den nun verstorbenen Stiefvater ganz anders erlebt als ich, die nicht in diesem Haushalt aufgewachsen war. Ich hatte meine Kinder- und Jugendzeit an vielen anderen Orten verbracht. Wir haben Dokumente, Briefe, Fotos und vieles mehr gefunden, was natürlich unzählige Fragen zum Leben unserer Mutter aufwirft und zu Spekulationen führt. Niemand kann uns etwas beantworten, da alle verstorben sind. Diffuse Erinnerungen bleiben zurück. Wir werden niemals Klarheit über das Leben unserer Mutter erfahren, warum sie uns so viel verschwiegen hat und auch während ihrer langen Krankheit nie mit uns Klartext geredet hat. Ich hatte leider nie den Mut, sie mal ganz direkt anzusprechen. Mein Bruder war da mutiger, aber sie hat ihm nichts erzählt. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Nun sind wir in der letzten Phase, das Haus sollte bis Ende Jahr verkauft sein – der Kaufvertrag ist in Bearbeitung – dann wollen wir mit diesem Kapitel abschliessen.
Jetzt habe ich Euch ganz schön zugemüllt! Den Chratten geleert, wie man bei uns so schön sagt.
Die jetzige «Corona-Situation» empfinde ich schlimmer, weil sich so viele darum futieren und weitermachen als gäbe es die Pandemie nicht. Da muss man sich schon Sorgen machen, wie das weitergehen wird. Wie wird es nach den Feiertagen aussehen????